Bischof Wilhelm von Ketteler und sein soziales Engagement
Vortrag von Dr. Hermann-Josef Grosse Kracht
Wenn man sich mit der Person – und den Predigten, Büchern, Briefen und Ansprachen – von Wilhelm von Ketteler (1811 – 1877) beschäftigt, dann stellt man immer wieder verblüfft fest, dass vieles von dem, womit Bischof Ketteler sich damals beschäftigt hatte, auch heute noch – oder gerade heute wieder – brennend aktuell erscheint. Mit vielem von dem, mit dem er sich damals schon herumärgern musste, damit müssen wir uns auch heute noch herumärgern…
Ich hoffe, dass ich Ihnen im Rahmen dieses Vortrags ein wenig davon deutlich machen kann. Denn sich mit Bischof Ketteler und den sozialen Debatten seiner Zeit zu beschäftigen, ist nicht nur von kirchenhistorischem Interesse. Im Gegenteil: Hier kann man so manches Schlaglicht aufleuchten sehen, das ein helles Licht auch auf die Situation der Gegenwart wirft; und man wundert sich dann manchmal, warum ein Bischof im 19. Jahrhundert so laut und kraftvoll, so vital und energisch zur sozialen Frage sprechen konnte, die Not der kleinen Leute, vor allem der Arbeiter, so nachdrücklich formulieren konnte, und warum etwas vergleichbar Deutliches von den Bischöfen heute kaum noch zu hören ist.
Ich möchte beginnen mit einem seiner vielen berühmten Sätze:
„Was helfen die sogenannten Menschenrechte in den Constitutionen, wovon der Arbeiter wenig Nutzen hat, solange die Geldmacht diese socialen Menschenrechte mit Füßen treten kann?“
Diese Frage rief Ketteler als Bischof von Mainz – im Jahr 1850 ist er im Alter von 39 Jahren in dieses Amt gekommen – im Sommer 1869 während einer großen Predigt auf der Offenbacher Liebfrauenheide aus; vor Tausenden von katholischen Arbeitern. Er soll eine enorm laute, durchsetzungsfähige Stimme gehabt haben. Diese Predigt gilt heute als Magna Charta der katholischen Arbeiterbewegung. Ketteler hatte sich hier sehr deutlich zur gerade erst entstehenden Gewerkschaftsbewegung bekannt und mit Nachdruck auch das Streikrecht, das damals noch verboten war, als legitim und unverzichtbar verteidigt, denn anders könnten die Arbeiter ihre verlorene Menschenwürde nicht zurückgewinnen.
In der Tat kann man diese Frage nach der Geldmacht und den sozialen Menschenrechten ja heute noch genau so stellen: Was nützen uns liberale Abwehrrechte gegen den Staat, fest verankert im Grundgesetz, solange die Teilhaberechte (Recht auf Arbeit und Wohnung, Recht auf Zugang zu Bildung und Gesundheitsleistungen) nicht ebenso sicher verankert sind? Und dass es eine ‚Geldmacht‘ gibt, die auf die Rechte und Bedürfnisse der Masse der Menschen keinerlei Rücksicht nimmt, dass sehen wir heute ja noch viel deutlicher als Bischof Ketteler vor 150 Jahren.
Woher kommt dieser Mann, der zu den prägendsten Bischofsgestalten des 19. Jahrhunderts gehört; der ein flammender, nicht selten übers Ziel hinausschießender Kämpfer für die Freiheit der Kirche war, dem die Macht- und Herrschaftsansprüche der römischen Papstkirche gegenüber den bürgerlich-liberalen Staatswesen seiner Zeit über alles gingen – in der Presse galt er damals als der ‚fehdefreudige Anführer des deutschen Ultramontanismus‘ …; und der gleichzeitig von einer besonderen Liebe und Zuneigung zu den kleinen und armen Leuten gepackt und geprägt war; der viel lieber in den Hütten der Armen saß als in den Anwesen der gesellschaftlichen Elite – so sehr, dass der damalige Fürstbischof von Breslau in einem Nachruf auf den soeben verstorbenen Ketteler notierte: Ketteler habe, wo er gelebt und gewirkt habe – in Beckum und Hopsten, in Berlin und in Mainz, segensreich gewirkt; allerdings habe er sich – zumal in Berlin – „vom Hofe zu sehr zurückgezogen“: „Ja er ist so weit gegangen, daß er es übel empfand, wenn seine Kapläne sich zu viel in adligen Häusern bewegten, und daher kam es, daß er in dieser höhern Welt fremder blieb als gut war.“
Ketteler war durch und durch ein Kind des traditionsbewussten, erdverwurzelten westfälischen Landadels – und er sollte dies immer bleiben. Seine Kindheit verbrachte er zum großen Teil auf dem Schloss Harkotten im Münsterland. Als Jüngling und späterer Jura-Student war er stolz und kraftvoll, begeistert von der wilden Hatz und Jagd; dem Duell, dem Trinkgelage und der schlagkräftigen Auseinandersetzung keineswegs abgeneigt; zur Theologie kam er erst deutlich später.
Im Jahr 1830 – da war er 19 – brachte ihm ein von ihm selbst leichtfertig provoziertes Säbelduell, das er als Mitglied der Studentenverbindung der Westfalen in Göttingen einging, den Verlust seiner Nasenspitze ein; und eine 14tägige Karzerhaft. Und schon als kleiner Junge war er als im Kreise seiner Familie und seiner Gouveranten als raubeiniger Unhold, als jähzorniges und unberechenbares Kind gefürchtet. In Briefen seiner eigentlich zartfühlenden Tante heißt es: er sei „ein über die Maßen wilder Junge und von einer geradezu erschreckenden Heftigkeit“ gewesen; sie habe ihn „manchmal mit den Handtuch festbinden müssen, um ihm die nötige Züchtigung zu verabreichen“. Und wenn der kleine Wilhelm von seinem Vater streng bestraft und zurechtgewiesen wurde, dann ist es nicht selten vorgekommen, dass er sich vor Wut auf die Erde warf und dort minutenlang hin und her wälzte.
Man sieht also: auch aus schwierigen Kindern kann später noch was werden.
Von diesem Jähzorn scheint Ketteler – sehr zu seinem Leidwesen – sein Leben lang nicht losgekommen zu sein. Jedenfalls kam es auch zu seiner Zeit in Mainz immer wieder zu deutlichen Klagen über die harsche Strenge und die unkalkulierbaren Zornesausbrüche des neuen Oberhirten. Viele Pfarrer monierten nicht nur hinter vorgehaltener Hand: aus Bischof Kettelers ganzem Benehmen trete der Hochmuth hervor, der ein Erbübel des Adels sei; und auch enge Freunde aus dem Domkapitel kamen nicht umhin, dem Bischof einmal einen Beschwerdebrief zu schreiben, in dem über seine „allzugroße Heftigkeit“ geklagt wurde, die „nicht selten das Maß des Erträglichen überschreitet“.
Im August 1835 hatte Ketteler seine juristische Ausbildung beendet; er wollte – wie viele westfälische Adlige damals, eine Karriere im preußischen Staatsdienst antreten; und nun schien ihm, wie sein großer Biograph Otto Pfülf schreibt, die Welt offenzustehen: “ eine glänzende Zukunft schien ihm gesichert. Gewandt im Verkehr wie in allen körperlichen Übungen, der beste Tänzer, dabei ein kühner Reiter und trefflicher Schütze, ein Edelmann vom Scheitel bis zur Sohle, in allen Kreisen des Adels beliebt und gesucht. ..schlank und wohlproportioniert, das jugendfrische und doch energische Gesicht vom dunklen Vollbart umrahmt, mit kühlen, fast trotzigen Blick, fesselte er unwillkürlich das Auge, wenn er hoch zu Roß ausritt zur Jagd oder mit seiner Schwadron Husaren in die Stadt einzog….“
Nach dem Tod seines Vaters im Sommer 1832 macht sich bei Ketteler aber auch – eher zaghaft – eine ruhige, bedächtige, nach Sinn und Orientierung suchende Seite bemerkbar. Seine Mutter wunderte sich jedenfalls, dass er nun häufiger ganze Abende ruhig in seinem Zimmer bei der Lektüre eines Buches verbringen konnte. So richtig aufgescheucht und aufgerüttelt in seiner Identität als guter Katholik wurde er aber erst durch das sogenannte ‚Kölner Ereignis‘; die Amtsenthebung des konservativen Kölner Erzbischofs Clemens August Droste von Vischering, der selbst aus dem westfälischen Landadel stammte. Droste Vischering hatte sich im Streit um die Mischehenfrage hartnäckig geweigert, den bisherigen modus vivendi bei den vielen Eheschließungen preußischer Soldaten und Beamten mit katholischen Frauen aus dem Rheinland fortzuführen und auf ein formelles Versprechen zur katholischen Erziehung der Kinder zu verzichten. Damit hat er gegen geltende Vereinbarungen verstoßen; und die preußische Regierung hat sich dann entschlossen, nachdem er sich weiter hartnäckig weigerte, ihn gefangen zu setzen und auf die Festung Minden zu verbringen; wenn man so will: eine spätabsolutistische Machtdemonstration des preußischen Staates gegen den renitenten Kirchenmann, die auch von der liberalen Presse kritisiert wurde und unter den Katholiken deutschlandweit heftige Proteste hervorrief.
Dieses ‚Kölner Ereignis‘ hat auch die Familie von Ketteler zutiefst empört und verbittert. So könne man nicht mit der jahrtausendealte, hochehrwürdige katholische Kirche umgehen, und schon gar nicht mit dem mindestens ebenso hochehrwürdigen westfälischen Landadel.
Ketteler schreibt in diesem Zusammenhang in einem Brief an seinen Bruder Wilderich: „Einem Staat, der die Aufopferung meines Gewissens verlangt, kann und will ich nicht dienen.“ Er beschließt den Staatsdienst zu quittieren und beginnt sich mit der Frage herumzuquälen, ob er nicht vielleicht für den geistlichen Stand berufen und ausersehen sein könnte: „man könnte Lust bekommen, Geistlicher zu werden, nur um in diesem Streit lebendiger mit eingreifen zu können; gewiss weder ein besonders schönes und frommes Motiv, aber man wird so ganz und gar vom Geist der Opposition ergriffen. Fehlten mir nicht alle Vorkenntnisse zu einer solchen würdigen Opposition, so wäre mir eben jene Versuchung sehr gefährlich“. Und in der Tat rang Ketteler sich in den nächsten Jahren – nicht ohne viele Zweifel und Unsicherheiten – dazu durch, das geistliche Amt anzustreben, obwohl er sich, wie er beklagt, „doch für einen ganz behaglichen Materialisten“ halte.
Im Frühjahr 1841 stand dann aber sein Entschluss fest. Er wollte Priester werden und empfand dies als ein ihm zuteilgewordenes übernatürliches Gnadengeschenk, als ein Erbarmen Gottes an ihm, dass er nun freudig und beglückt annahm, wobei er aber skeptisch anmerkte: „Wenn mir Gott nur, wie er mir alles Selbstvertrauen genommen hat, so auch alles Selbstscheinen vor der Welt nehmen wollte. … Vor der Welt möchte ich mir noch überall Bemerktwerden, Schein und Ehre verschaffen … und vollständiges Verschwinden und Vergessen und noch weniger Verachtung und Schmach vor der Welt würde ich nicht ertragen können“.
Seine erste Kaplansstelle führte den jungen Freiherrn dann nach Beckum, eine ziemlich beschauliche, von der Industrialisierung noch kaum erfasste Landpfarrei südwestlich von Münster. In den Gottesdiensten trat Kaplan v. Ketteler meist als flammender Bußprediger auf, der regelmäßig ins Schreien verfiel. Er hat später selbst einmal notiert, dass für die jungen Kapläne damals als Norm einer guten Predigt galt, „daß man den ganzen Montag noch heiser sein musste“, und wer das nicht war, der hatte es an Eifer fehlen lassen. Ketteler verbrachte damals viel Zeit im Beichtstuhl, beim Besuch der Schulkinder, der Kranken und der Armen, wobei der Volksmund zu berichten weiß, dass er bei Besuchen auf den Höfen lieber mit dem Gesinde zusammensaß als mit dem Bauern; und dass er oft selbst mit anpackte, wenn alte oder kranke Dienstleute Getreide aufzuladen oder einen steckengebliebenen Karren aus dem Morast zu ziehen hatten…
Wenige Jahre später wurde er dann Pfarrer von Hopsten, einer 2000 Seelen-Gemeinde im nördlichen Münsterland, wo er die schwere Missernte und die Hungersnot der damaligen Zeit miterlebte. So wird berichtet, dass Ketteler, als das Tyhus-Fieber ausbrach, ohne Furcht in die Häuser der Fieberkranken ging, ihnen die Betten machte, die Wunden reinigte und die Leichen wusch. Später – als Abgeordneter der Frankfurter Nationalversammlung – sollte er gegenüber seinen liberalen und sozialistischen Gegnern darauf bestehen, dass er das Volk und seine Sorge und Nöte, aber auch seinen Glauben und sein Gottvertrauen, besser kenne als die meisten Schreiberlinge und Literaten.
So sehr sich Ketteler aber abmühte, den Leidenden in ihrer Not beizustehen, so sehr erklärte er ihnen, das Teuerung und Krankheit, Typus, Hunger und Elend die „Zuchtrute Gottes“ seien, die gerechte Strafe für die Sünden der Menschen, die man demütig als verdient und gerecht hinnehmen müsse. So heißt es in einer Predigt: „… während andere noch darüber nachdenken, was die Ursache der Kartoffelkrankheit ist, weiß der Christ: ‚Es ist so Gottes Wille’…“.Von der scharfen Gesellschaftskritik seiner späteren Jahre, von der wortgewaltigen Skandalisierung der sozialen Not, von der Frage, was ist zu tun, um den Elend Einhalt zu bieten, war Ketteler zu dieser Zeit noch weit entfernt; ebenso wie die meisten Kapläne, Pfarrer und Bischöfe seiner Zeit. Dass gerade die katholische Kirche die soziale Frage auf die Tagesordnung zu bringen hatte, das war eine Entdeckung, die Ketteler erst später machen sollte – und unter seinen bischöflichen Mitbrüdern sollte er dabei nur wenig Unterstützung finden. Dass sich die Kirche nicht allein mit noch so aufopferungsvoller Barmherzigkeit, mit noch so flammender Caritas, mit noch so großen Bemühungen um Spenden und Almosen begnügen kann und darf, dass sollte dem Pfarrer von Hopsten erst bewusst werden, als er – als Abgeordneter des Wahlkreises Tecklenburg – 1848 in der Frankfurter Nationalversammlung saß, wo eine neue Verfassungsurkunde über die Grundrechte des deutschen Volkes beschlossen werden sollte.
Ketteler hatte sich in die Nationalversammlung wählen lassen, um daran mitzuwirken, dass hier die überkommenden Rechte der katholischen Kirche, das alleinige Recht des Papstes zur Bischofsernennung, die Rechte der kirchlichen Selbstverwaltung, die Fortexistenz kirchlicher Schulaufsicht, die kirchliche Ehe- und Familienstandführung, also die libertas ecclesiae, die Freiheit der Kirche, verfassungsrechtlich festgeschrieben werden. Dieser Kampf um die Freiheit der Kirche – und für die Zurückdrängung der diesbezüglichen Regulierungsansprüche der modernen Staaten, war sein zentrales Anliegen; und sollte auch später sein zentrales Anliegen bleiben. Von daher ist es auch nur richtig, dass Ketteler in der wissenschaftlichen Forschung der letzten Jahren nicht so sehr als ‚Arbeiter-‚ oder ‚Sozialbischof‘, sondern eher als ultramontaner Kirchenführer in den Blick geraten ist.
Trotzdem: in der Frankfurter Paulskirche hat Ketteler auch die soziale Frage für sich entdeckt, und zwar als Thema, mit dem sich die katholische Kirche in der Konkurrenz zu ihren weltanschaulichen Gegnern als unendlich überlegen beweisen kann. Wenn es um das Hinsehen und Ernstnehmen, um Heilung und Abhilfe für die soziale Not der Menschen gehe: wer könne da besser helfen, wer könne da erfolgreicher sei, wer könne da bessere und erprobtere Mittel anbieten als die katholische Kirche mit ihrer langen Tradition von Almosen, Nächstenliebe und Caritas? Hier – und nur hier – eröffne sich ein Feld, so dachte Ketteler, wo sie all ihren Gegnern unendlich überlegen sei, wo sie all ihre ideologischen Feinde, die sonst so hämisch und arrogant über die mittelalterliche Rückständigkeit des Katholizismus herfallen, in ihrer mangelnden Zuwendung zu den Armen bloßstellen, ja sogar vor sich hertreiben könne. So schreibt Ketteler in einem Redemanuskript aus dem Jahr 1848: „Wohlan, so lassen Sie die Confessionen sich messen an der Kraft der Liebe, die sie in sich haben; und wenn wir erkennen, wo die wahre Liebe, die aufopfernde, hingebende Liebe ist, dann werden wir .. erkennen, wo auch der wahre Glaube ist.“
Diese neu entdeckte Idee – die soziale Frage als Arena des ideologischen Streits um die wahre Religion – sollte Kettelers Beschäftigung mit der sozialen Frage, sein Denken und Tun als ‚Sozialbischof‘ nun für mehr als ein Jahrzehnt entscheidend prägen. Denn erste Unsicherheiten darüber, ob es um die aufopfernd-brennende katholische Liebestätigkeit wirklich so gut steht, ob der katholische Almosenglauben, der sich im Tun guter Werke verzehrt und dafür himmlische Glückseligkeit erwartet, wirklich massenhaft wirksam ist; solche Zweifel sollten dem jungen Ketteler erst Jahre später kommen. Er musste nämlich immer wieder – zu seiner auch menschlich großen Enttäuschung – die Erfahrung machen, dass der katholische Adel, auf den er so große Hoffnungen gesetzt hatte, keineswegs bereit war, für ihn und seine zahlreichen Wohltätigkeitsprojekte die Herzen zu öffnen und entsprechend tief ins Portemonnaie zu greifen.
Die materielle Not der Arbeiterschaft war für Ketteler jetzt das Feld, auf dem jedermann einsehen müsse, dass hier einzig und allein die katholische Kirche Abhilfe schaffen könne: In einer 1848er Predigt erklärt er: „Mit Jesus Christus, in der Wahrheit, die er gelehrt hat, können wir die Erde zum Paradiese machen, können wir unseren armen leidenden Brüdern ihre Tränen trocknen, ja können wir selbst Gemeinschaft der Güter und den ewigen Frieden herstellen und zugleich die freiesten socialen und politischen Institutionen schaffen, ohne ihn werden wir mit Schmach, Schande und Elend zugrunde gehen…“
In diesem etwas schwärmerisch geratenen Geist hält Ketteler auch seine berühmten sechs Adventspredigten im Mainzer Dom. Sie wiederholen durchgehend diese Botschaft und sind davon überzeugt, dass einzig und allein in einer Rückkehr zum katholischen Christentum Rettung und Heil zu finden seien Diese sechs Predigten, die umgehend auch im Druck erschienen, bewegten sich allerdings in keiner Weise auf der Höhe der sozialpolitischen Diskussion. Die breite Literatur, die es damals schon gab, hatte Ketteler im glaubensgewissen Überschwang gar nicht erst zur Kenntnis genommen; das hielt er schlicht für überflüssig, weil ja die einzig echte Lösung ohnehin in den Händen der Kirche lag. Allerdings enthalten die Adventspredigten eine bemerkenswerte, an Thomas von Aquin angelehnte Grundsatzkritik des bürgerlich-liberalen Eigentumsverständnisses. Ketteler hatte hier nämlich das liberale Eigentumskonzept, wonach der legitime Besitzer mit seinem Eigentum machen kann, was er will, als eine „gottlose Lehre“ verurteilt, die die Kluft zwischen Armen und Reichen ins Unermeßliche steigere – und die es in Ordnung finde, „wenn arme Mitbrüder in der Entbehrung des Notwendigsten dahinschmachten“. Für die Eigentumslehre der Kirche gelte dagegen, dass sie das Recht auf Privateigentum zwar grundsätzlich anerkenne, dass der Umgang mit dem Eigentum aber stets so erfolgen müsse, dass er der göttlichen Widmung der Güter an alle entspricht. Man darf mit seinen Gütern also gerade nicht einfach machen, was man will. Ketteler behauptet sogar, dass die Lehre der Kirche in einem gewissen Sinne den Communismus heiligt, weil sie darauf besteht, dass „die Früchte des Eigentums wieder zum Gemeingut aller“ werden müssen. Diese Aussage sollte Ketteler noch Jahrzehnte später den Vorwurf einbringen, eigentlich ein verkappter Kommunist zu sein. So sollte der evangelische Theologe Albrecht Ritschl 1887 behaupten, „daß die socialistischen Grundsätze von jeher in der Römischen Kirche Heimatrecht haben. Die gegenseitige Verwandtschaft verrät sich in der Gegenwart endlich noch in der Sympathie mit sozialistischen Ansprüchen, welche Schriftsteller über die soziale Frage, die dem katholischen Klerus angehören, deutlich kundgeben.“
Kettelers Adventspredigten, die er noch als Pfarrer von Hopsten gehalten hatte, verpufften insgesamt ohne nennenswerte öffentliche Resonanz. Für die schon damals erhobene Forderung, die staatliche Gesetzgebung müsse für die Lösung der sozialen Frage in Anspruch genommen werden, war er 1848 noch völlig unsensibel. Den modernen Territorialstaat, gegen dessen Herrschaftsansprüche sich ja der große Kampf für die ‚Freiheit und Unabhängigkeit der Kirche von Staat‘ richtete, konnte man doch unmöglich um Hilfe angehen. Die Vorstellung, dass man diesem Staat Verantwortlichkeiten in der sozialen Frage zusprechen sollte, also genau in dem Aufgabenfeld, das seit ewigen Zeiten zum ureigenen, exklusiven Bereich der Kirche gehört, schien nicht nur ganz und gar undenkbar; sie wäre auch einer vollständigen Kapitulation, einer Selbstpreisgabe der Kirche in der Öffentlichkeit gleichgekommen. Die Kirche hätte sich dann, so meinte man jedenfalls, gleich vollständig in eine rein private religiöse Innerlichkeit zurückziehen und dem Staat das gesamte Feld des gesellschaftlichen Lebens überlassen können. Aus diesem als für die Kirche existenzbedrohend empfundenen Wahrnehmungsmuster sollte Ketteler in den nächsten Jahren nur schwer herausfinden. Immerhin aber: er hat es geschafft, und zwar viel früher und klarer als andere.
Wie kam dieser Umbruch zustande?
Wie es scheint vor allem dadurch, dass sich Ketteler nun doch auf die sozialpolitischen Debatten seiner Zeit eingelassen hat, dass er sich mit den damaligen Auseinandersetzungen zwischen den bürgerlich-liberalen und den sozialdemokratischen Lösungsvorschlägen wirklich zu beschäftigen begann, dass er sich nicht länger auf die so bequeme Überzeugung von der überlegenen Wahrheit der Kirche und ihrer Caritas zurückziehen wollte.
Im Jahr 1863 kam es in Deutschland zu einem heftigen politisch-ideologischen Streit um den richtigen Umgang mit der sozialen Frage. Es handelte sich um eine der vielleicht wichtigsten Grundsatzdebatten im sich industrialisierenden Deutschland, eine Debatte, die in Presse und Publizistik mit Schärfe und Heißblut geführt wurde. Und Bischof Ketteler, der sich zuvor über ein Jahrzehnt lang nicht mehr zur sozialen Frage geäußert hatte, nun mittendrin…
Es ging um die Alternative: Selbsthilfe oder Staatshilfe. Für den politischen Liberalismus und die bürgerliche Fortschrittspartei, die sich bis dahin um die soziale Frage herumgemogelt hatte, trat nun Hermann Schulze-Delitzsch in den Ring, der bis heute berühmte Stammvater des deutschen Genossenschaftswesens. Er wollte die entstehende Arbeiterbewegung für den Liberalismus, für die Leitideen von Freiheit und Eigenverantwortung, für Leistung und Fleiß, für Unabhängigkeit und Selbständigkeit gewinnen. Jeder sollte es auf dem freien Markt durch seine eigene Kraft schaffen können; und so sei menschliche Würde und Selbstachtung zu sichern. Das Almosen – ob von der Kirche oder vom Staat gegeben – schwäche nur die Selbstheilungskräfte des Individuums. Kirche und Staat seien deshalb für die Lösung der sozialen Frage nicht geeignet. Wo es der kleine, noch selbständige Handwerker aus eigener Kraft nicht schaffe, sich zu einem wenigstens bescheidenen Lebensniveau hochzuarbeiten, da soll er sich freiwilligen Selbsthilfe-Genossenschaften anschließen, vor allem Einkaufs- und Konsumgenossenschaften. Denn damit kann er seine Chance verbessern, sich auf dem Markt gegen die Konkurrenz der Fabriken zu behaupten. Und wer schon in den Stand des unselbständigen Proletariers abgesunken sei, der könne es durch genossenschaftliche Selbsthilfebemühungen immerhin schaffen, sich Bildung zu holen und sich über Spar- und Kreditvereine die Chance zu einer neuen Existenz als selbständiger Kleingewerbetreibender zu sichern. Genossenschaftliche Selbsthilfe ohne Staatshilfe ist, so Schulze-Delitzsch, der einzig legitime Weg zur Hebung der sozialen Not. In diesem Sinne erklärt er den Arbeitern in seinem so genannten Arbeiter-Catechismus, einer kleinen Schrift aus dem Jahr 1863: „Darauf, dass jeder die Folgen seines Tuns und Lassen selbst trage und sie nicht anderen aufbürde…, beruht die Möglichkeit alles gesellschaftlichen Zusammenlebens. Einen Schutz gegen diese Freiheit anrufen, heißt die eigene Entwicklungsfähigkeit aufgeben. Wer solchen Schutz bedarf, verdient nicht zu bestehen, denn dieser Schutz könnte ihm nur gewährt werden auf Kosten der Freiheit und Entwicklungsfähigkeit der übrigen, die dadurch zu Unrecht herabgedrückt würden. Zu einer Existenz auf fremde Kosten, obendrein zum Nachteil des Ganzen, hat aber niemand ein Recht…“.
Gegen dieses liberale Sozialreformprojekt via Eigenverantwortung und freiwilliger genossenschaftlicher Selbsthilfe hat sich dann – scharf und vehement – Ferdinand Lassalle ausgesprochen, die – so kann man vielleicht sagen – Gründerfigur der deutschen Sozialdemokratie. Schulze-Delitzsch und Lassalle haben sich in diesen Jahren einen erbitterten publizistischen Kampf geliefert. Es ging um die Frage, ob die neu entstehenden Arbeitervereine weiterhin ein integraler Teil der bürgerlich-liberalen Freiheitsbewegung bleiben oder ob sie eine eigene Arbeiterpartei gründen sollten; eine Partei, die sich klar gegen die Interessen der bürgerlichen Klasse und des industriellen Kapitals stellt – eine Trennung, die Schulze-Delitzsch und seine Mitstreiter im Namen der gesellschaftlichen Harmonie des kommenden bürgerlichen Zeitalters unbedingt verhindern wollten.
Lassalle wirft der liberalen Genossenschaftsidee vor, dass sie von Anfang an zum Scheitern verurteilt sei. Sie könne bestenfalls dazu beitragen, den kleinen Handwerkern ihr individuelles Elend etwas erträglicher zu machen und ihr Sterben zu verlängern. Sie könne aber nie und nimmer die Lage des gesamten Arbeiterstandes wirklich verbessern. Dazu sei es vielmehr nötig, die Trennung von Kapital und Arbeit zu überwinden und das eherne Gesetz des Arbeitslohnes, der sich auf einem freien Arbeitsmarkt in Pendelbewegungen immer nur um das reine Existenzminimum bewegen könne, endgültig zu brechen. Es komme deshalb darauf an, die Arbeiter zu ihren eigenen Unternehmern zu machen und den durch ihre Arbeit produzierten Gewinn niemand anderem als den Arbeitern selbst zukommen zu lassen.
Als Königsweg zu diesem Ziel propagierte Lassalle deshalb die sogenannten Produktivassoziationen mit Arbeiterselbstverwaltung, also Fabriken, die den Arbeitern selbst gehören und von ihnen selbst geleitet und verantwortet werden. Fabriken, die sich dann am Markt behaupten müssen und zu deren Errichtung niemand von seinem rechtmäßig erworbenen Eigentum enteignet werden muss. Vielmehr soll hier der Staat mit großzügigen Krediten und Investitionszuschüssen die Arbeiter bei der Errichtung dieser Großbetriebe unterstützen. Staatshilfe zur Errichtung von Produktivassoziationen also als Königsweg zur Lösung der sozialen Frage; und ein endgültiger Abschied von der liberalen Illusion der individuellen Eigenverantwortung; denn ohnehin seien längst die Zeiten vorbei, in der der Einzelne die ökonomischen Bedingungen seiner materiellen Existenz auch nur ansatzweise noch selbst im Griff habe.
Die ökonomischen Lebensbedingungen der Menschen werden nämlich, so Lassalle, in der modernen Fabrikgesellschaft – anders als auf der einsamen Insel eines Robinson Crusoe – keineswegs von den bewusst geplanten Zielen und Absichten der Einzelnen bestimmt, sondern zum allergrößten Teil von Zusammenspiel blinder Zufälle, auf die der einzelne kaum Einfluss nehmen kann. Lassalle schreibt: „Wenn heute z.B. die Rosinenernte in Korinth und Smyrna oder die Getreideernte im Mississippital reichlich ausgefallen ist, dann verlieren vielleicht die Getreidehändler in Berlin und Köln die Hälfte ihres Vermögens. Jede neue Erfindung entwertet Massen fertiger Warenvorräte; und niemand kann sicher vorhersagen, wo und in welchen Bereichen in fünf bis zehn Jahren welche Arbeit nachgefragt wird und anständig entlohnt werden kann.“ Fest stehe nur, so Lassalle, dass kapitalkräftige Kaufleute und Unternehmer durch das geschickte Ausnutzen von Konjunkturen in glücklichen Fällen „hoch hinaus in den Schoß des Reichtums geschleudert“ werden könnten, während der kapital- und eigentumslose Arbeiter von vorn herein vom Glückspiel dieser Risikoinvestitionen ausgeschlossen bleibt. Vielmehr gelte umgekehrt: „Der Arbeiter ist es, welcher mit Lohnverminderung, mit Aufopferung mühseliger Ersparnisse, mit gänzlicher Arbeits- und somit Existenzlosigkeit die notwendigen Mißerfolge in jedem Spiel der Arbeitsherren und Spekulanten bezahlt, deren falsche Spekulationen und Berechnungen er nicht hervorgebracht hat, deren Gier er nicht verschuldet hat und deren Glückserfolge er nicht teilt.“ Lassalle resümiert deshalb bitter: „Arbeiter- wie Handwerkerstand bilden in unserer Gesellschaft eine wirtschaftliche Abteilung, über welcher die Inschrift der Danteschen Hölle steht: ‚Ihr, die ihr hier eintretet; lasst alle Hoffnung fahren’“.
In diesen Streit zwischen Liberalismus und Sozialismus, zwischen Selbsthilfe und Staatshilfe, zwischen freier Marktwirtschaft und politisch organisierter Wirtschafts- und Sozialordnung sollte sich nun – ungewöhnlich genug – auch der Mainzer Bischof Ketteler einmischen. Und er sollte hier klipp und klar Position beziehen: und zwar für Lassalle. Den Vorstellungen des politischen und ökonomischen Liberalismus erteilte er dagegen eine denkbar scharfe Absage. Marktwirtschaft und Liberalismus: das bedeutet für ihn die blanke Herrschaft der gefühllosen Geldmacht, die die Rechte der Arbeiter mit Füßen tritt. Dagegen hätten die Lassalleaner mit dem Konzept der Produktivassoziationen „eine herrliche Idee“ entwickelt, an deren Umsetzung sich Ketteler intensiv beteiligen wollte. Es ist also nicht ganz aus der Luft gegriffen, wenn man von protestantischer Seite Ketteler später als einen ‚ins Katholische gewendeten Lassalle‘ qualifizieren sollte….
Allerdings lehnte Ketteler zu dieser Zeit eine finanzielle Hilfe des Staates noch aus grundsätzlichen Überlegungen ab, denn dass der Staat die Wohlhabenden belasten dürfe, um mit deren Steuern einseitig Reformprojekte für die Arbeiter zu unterstützen, dass schien ihm auf der Grundlage der damaligen katholischen Morallehre nicht zulässig. Schließlich gebe es, so Ketteler, „keine Zwangspflicht zur Milderung der Noth der Mitmenschen, sondern nur eine moralische Pflicht, eine Pflicht der christlichen Nächstenliebe“. Deshalb könne und solle man die Anschubfinanzierung für die Produktivassoziationen nicht über steuerfinanzierte Staatshilfe, sondern nur über Spenden und Almosen der Reichen auf den Weg bringen.
Und an dieser Stelle sollte bei Ketteler der Umschwung einsetzen; die Einsicht: ‚es muss doch über den Staat gehen, ohne systematische Sozialpolitik ist nichts zu erreichen‘. Seine hoffnungsvollen Versuche in katholischen Adelskreisen massenhaft freiwillige Spendengelder für Produktivassoziationen zusammenbetteln zu können, sind nämlich ziemlich kläglich gescheitert. Dabei hatte er ernsthaft vor, fünf solcher Einrichtungen in der Diözese Mainz zu gründen; und er hatte dazu sogar einem anonymen Brief an Lassalle geschrieben und um dessen Mithilfe beim Aufbau dieser Arbeiterfabriken gebeten. Lassalle hatte dem anonymen Schreiber auf seine Frankfurter Postfachadresse auch prompt geantwortet – Ketteler hat sich dann aber wohl doch nicht getraut, mit Lassalle zusammenzuarbeiten. Auf dessen Antwortbrief hat er jedenfalls nicht weiter reagiert.
Kurze Zeit später, im Jahr 1865, erklärt er dann aber feierlich: „Wenn der Staat sich verpflichtet hält, große und wichtige Unternehmungen – vor allem beim Eisenbahnbau – durch Staatshilfe zu unterstützen und zu befördern, dann darf er sich auch der Unterstützung des Arbeiterstandes nicht entziehen.“ Und zur gerade in katholischen Kreisen noch jahrzehntelang weiterbestehenden Angst, dass ein Plädoyer für soziale Staatshilfe doch zwangsläufig in Konkurrenz zur freiwilligen christlichen Nächstenliebe treten müsse und am Ende gar zur Unterminierung der öffentlichen Caritas-Tätigkeit der Kirche führen müsse, erklärte er, ebenfalls schon 1865: „Auch wenn einmal alle schreienden sozialen Mißstände beseitigt sein werden, werden wir immer noch genug Arme und Reiche, Kranke und Gesunde, Glückliche und Unglückliche unter uns haben, die Gelegenheit genug bieten, die Werke der christlichen Nächstenliebe und Barmherzigkeit zu üben.“
Damit hatte Ketteler den Knoten durchgeschlagen und erstmals im Katholizismus– und damit war er ein echter Vorreiter – eben doch staatliche Hilfe und Unterstützung in der sozialen Frage eingefordert. Konkret ging es ihm nicht nur um die ‚herrliche Idee‘ der Arbeiterfabriken, sondern auch um eine deutliche Stärkung der Gewerkschaften und der Arbeiterselbsthilfebewegung. Denn solange der Arbeiterstand „nicht durch eigene Organisation sich selbst helfen kann“, sei er berechtigt, „vom Staat Schutz für sich, seine Gesundheit, seine Arbeitskraft, seine Familie gegen die Übermacht, welche das Kapital verleiht“, zu fordern. Konkret verlangt Ketteler u.a. einen gesetzlichen Normalarbeitstag von 10 oder höchstens 11 Stunden (damals waren noch wöchentliche Arbeitszeiten von 78 Stunden keine Seltenheit), ein allgemeines Arbeitsverbot an Sonn- und Feiertagen und ein Verbot aller Kinderarbeit bis mindestens zum 14. Lebensjahr. Zudem forderte er eine deutliche Verringerung des Militäretats, Steuerbefreiung für notwendige Lebensmittel, die Einführung einer Börsensteuer und eine Besteuerung von Aktiengesellschaften, denn „diese großen Geldinstitute in unserer Zeit bringen den Staat selbst in vielfache Abhängigkeit von sich und sind recht eigentlich Staaten im Staate“. Ein besonderes Übel stelle dabei „die Ausnutzung des gesamten Creditverkehrs in der Welt durch eine verhältnismäßig kleine Zahl großer Börsenmänner“ dar, denn hier verberge sich „eine ganze Welt von Unredlichkeiten, Betrügereien, Unsittlichkeiten und Schwindeleien aller Art“, die in der modernen Welt jedoch „statt ins Zuchthaus zu Ehren“ führe.
Bei seinen Bischofskollegen ist Ketteler mit seinen sozialpolitischen Anliegen aber ziemlich abgeblitzt. Zur Fuldaer Bischofskonferenz 1869 hatte Ketteler umfangreiche Texte und Referate zur sozialen Frage ausgearbeitet und so etwas wie eine systematische kirchliche Arbeiterpastoral gefordert. Kurz und apodiktisch erklärte er; dass die Arbeiterschaft für die normale kirchliche Seelsorge „im Großen und Ganzen vollkommen unempfänglich und unzugänglich“ sei. Der Klerus habe bis heute von den Ausmaßen und Dimensionen der sozialen Frage und der Lebenssituation der Arbeiter keine Ahnung; in der Priesterausbildung komme sie nicht vor. Und in den Bistümern werde nicht darauf geachtet, geeignete Priester für die Fragen der Arbeiterschaft freizustellen und entsprechend zu fördern. Und mit allem Nachdruck betonte er: „Die sociale Frage berührt das depositum fidei. … Das Princip der modernen Volkswirtschaftslehre …steht mit der Würde des Menschen, geschweige denn des Christen, mit der von Gott gewollten Bestimmung der Güter dieser Welt zum Unterhalt des Menschengeschlechtes … im offenen Widerspruch und verdient, dogmatisch verworfen zu werden.“
Ausdrücklich warnt Ketteler seine bischöflichen Kollegen vor der Auffassung, dass die Arbeiterfrage „noch allzu verworren“ sei, als dass sie von der Kirche schon jetzt praktisch ergriffen werde könne: „Die Frage ist vollkommen reif. Das Vorhandensein der geschilderten Übelstände wird von allen Parteien zugegeben“. Im Protokoll der Beschlüsse dieser Bischofskonferenz findet sich davon aber kaum etwas wieder. Man war nach wie vor der Meinung, dass es für die Kirche ausreiche, sich weiterhin intensiv der Caritas und der überkommenen Formen der Armenpflege zu widmen. Dass die moderne Industriegesellschaft ganz neue Herausforderungen mit sich bringt, auf die die Kirche in ganz neuer Weise reagieren muss, konnte Ketteler seinen Kollegen im Bischofsamt offenbar in keiner Weise klarmachen.
Ketteler ist mit seinem heißen Bemühen um die soziale Frage also einigermaßen gescheitert; und er hat es sicher auch selbst so erlebt und empfunden. Die ‚herrliche Idee‘ der Arbeiterfabriken hielt er – ziemlich realistisch – dann doch schon recht früh für aussichtslos und nicht praktikabel; zumindest nicht in wirklich großformatigen Ausmaßen. Die katholische Kirche insgesamt konnte er, obwohl er längst zu den einflussreichsten Kirchenführern seiner Zeit gehörte, nicht so stark für die soziale Frage zu sensibilisieren, wie er gerne gewollt hätte. Und sein großer und mächtiger Gegner, der politische und ökonomische Liberalismus hatte seit den Zeiten der Reichsgründung endgültig gesiegt; was für ihn dann in den heftigen Auseinandersetzungen der badischen und später dann der preußischen Kulturkämpfe unübersehbar deutlich wurde.
Ketteler machte sich in seinem letzten Lebensjahrzehnt – er starb 1877 – kaum noch Hoffnungen auf einen sozialpolitischen Aufbruch im neuen deutschen Reich. Für die nationalliberale Mehrheit in deutschen Reichstag stand das Thema ohnehin nicht auf der Tagesordnung. Die preußische Ministerialbürokratie war zu dieser Zeit noch weit davon entfernt, die große Gesetzgebung zu den Bismarckschen Sozialversicherungen gegen Unfall, Krankheit und Alter auf den Weg zu bringen; und auch die katholische Zentrumspartei hatte das Feld der Sozialpolitik noch nicht für sich entdeckt. Ketteler selbst hat zur Arbeiterfrage und zu konkreten sozialpolitischen Reformprojekten schon 1868 in einem Brief notiert: „Mit dem Alter wird man leider sehr bedenklich und dadurch inproductiv; das fühle ich auch an mir“ – da war er gerade 57 Jahre alt. Und wenig später heißt es dann: „Ich bin allmälig zu alt für die Lösung der socialen Probleme. Ich überzeuge mich nur immer mehr, dass dies eine der großen und herrlichen Aufgaben der Zukunft sein wird, so wenig es bisher verstanden wird. … während mich nichts mehr erschafft und flügellahm macht als das Treiben all jener, die von dieser Gotteskraft der Kirche nichts wissen wollen“
Ob man 150 Jahre später von dieser großen und herrlichen Aufgabe wirklich mehr versteht; und ob der Katholizismus heute „von dieser Gotteskraft der Kirche“ noch was weiß und wissen will; das weiß ich nicht so genau. Wenn Ketteler die heutigen Verhältnisse innerhalb und außerhalb seiner Kirche beobachten könnte, dann könnte es jedenfalls sein, dass er ähnlich enttäuscht und unzufrieden wäre wie damals.
(Text des Vortrags von Dr. Hermann-Josef Grosse Kracht in der Von-Ketteler-Gilde am 30. Oktober 2012. Die im Text verwendeten Zitate sind entnommen dem Buch: Hermann-Josef Große Kracht, Wilhelm Emmanuel von Ketteler – Ein Bischof in den sozialen Debatten seiner Zeit, Kevelaer 2011.)